Kino
Die Komödie "Was Marielle weiß" im Kinosaal - Das Kind, das mehr gewusst hat
Die Seltenheit einer intelligenten deutscher Fantasiekomödie ist das Besondere an "Was Marielle weiß" von Frédéric Hambalek.
Einige Leute mögen keine Fantasiefilme. Für sie haben Elfen und Zwerge keinen Reiz, und besondere Visual Effects interessieren sie auch nicht. Trotzdem wäre es bedauerlich, wenn ihnen wegen des Genres ein Film verborgen bleiben würde, der trotz fehlender unwirklicher Szenen den surrealen Poetik von Regisseuren wie Luis Buñuel, René Clair, Michel Gondry oder Yorgos Lanthimos gleicht. Selbst der einzige spektakuläre Effekt im Film ist nur eine einfache Slow Motion am Anfang. Die junge Hauptfigur, ungefähr zehnjährig, bekommt einen Schlag ins Gesicht, durch den sie plötzlich fähig wird, ihre Eltern live bei ihren Aktivitäten zu beobachten.
Ein modernes, hoch technisiertes Babymonitor-System mit integrierter Kamera inspirierte Frédéric Hambalek zu einer neuen Überlegung: Was würde geschehen, wenn die Kinder stattdessen einmal all das erfahren würden, was ihre Eltern normalerweise für sich behalten? Unabsichtlich erhält Marielle Zugang durch ihre innere Sicht dazu, wie das tägliche Dasein ihrer Eltern tatsächlich aussieht – ein Leben, von dem sie bisher nichts geahnt hatte. Der Titel des Werkes lautet "Das Wissen Marielles", und es führt seine Leserschaft daran teilhaben lassen, wie dieses neue Bewusstsein Marielle gegenüber allem andere Perspektiven verändert.
Die mutmaßliche Heldentat des vom Felix Kramer dargestellten Vaters, der Cheflektor bei einem Literaturverlag ist, wurde aus dem Effeff erfunden. Weder hat er den kritischen Mitarbeiter grob zur Ordnung gerufen, noch soll dies geschehen sein, nachdem jener ihm vor allen Anwesenden das Buchcover einer Romanserie abgelehnt hatte. Im Gegenteil: Seine Bemerkungen bezüglich des Themas eines kopfgewölkten Vogels, welches ein billiger Versuch sei, Magritte zu imitieren, wurden letztendlich sogar die Verlegerin davon überzeugen.
Wissen kann auch das Todesstoß für die Liebe sein.
Ironischerweise haben wir auch bei diesem Film mit einer Art von Surrealismus zu tun, wenn Marielle dank ihrer Allwissenheit ihre Eltern beim Lügen ertappt – aber deutlich besserem. Dafür ist die geheim gehaltene Rauchpause ihrer angeblichen Nichtraucher-Mutter umso wahrer, auch wenn beide Elternteile mit Händen und Füßen bestreiten, was ja eigentlich auch niemand wissen kann. Dass Marielle vielsagend das pikante Beiwerk der Rauchpause ausspart, nämlich den heißen Flirt mit einem jüngeren Kollegen, versetzt sie in eine unausgesprochene Position der Macht.
Zwei, die unschuldig sündigten, geraten später immer tiefer in eine Falle nach der anderen. Auch das Mädchen findet keine Glückseligkeit mehr in ihrer neu gewonnenen Erkenntnis. Sie sehnte sich danach, ihre fröhliche Unwissenheit wiederzuerlangen. Wissen kann mächtig sein, doch zugleich ist es auch wie ein Nagel im Sarg der Liebe. Plötzlich macht sogar die Musik von Robert Schumann einen Sinn als Bezug zur deutschen Romantik. „Nie sollst du mich befragen/ noch Wissens Sorge tragen“ warf Wagner seinem Charakter Lohengrin in den Text. Wenn man allzu sehr versucht herauszufinden, was hinter den Menschen steckt, denen wir nahestehen, schneidet man schon an diesem Liebesbaum herum.
Diese prächtig gestaltete Filmmacherin führt verschiedene zerschlissene Liebesthemen vor Augen: Das einer beruflich erfolgreich agierenden Paar, welches sein Familienglück eher organisiert statt zu genießen. Sogar die Büroadventures der von Julia Jentsch verkörperten Frau und Mutter sind ein letztendliches Fehlgriff im Rahmen wirtschaftlicher Hierarchiestrukturen.
Und dort gibt es die kindliche Liebe, die auf einmal keineswegs selbstverständlich erscheint. Als Marielle ihrer Mutter gegenübertritt und ihr offenbart, dass sie sie eigentlich überhaupt nicht mag, geschieht dies nicht nur aus ethischem Unmut. Ihre neue Einsicht hilft ihr, eine längst vorhandene Distanz viel deutlicher zu begreifen. Je weniger jedoch über das Mädchen an sich bekannt wird. Das beeindruckende junge Schauspiel talent Laeni Geiseler bringt sehr wenig von dem naiven Verhalten eines Kindes in ihre Interpretation ein.
Trotz der tiefliegenden und sogar philosophischen Reflexion des Films über die Bedrohung von Liebe und Vertrauen bleibt diese Produktion vor allem eine Komödie – genauer gesagt, eine späthistorische barocksche Komödie. Kluge Komödien sind selten, selbst wenn die Filmindustrie behauptet, nach solchen Werken zu dürsten. Oftmals ist es einfacher, mittelmäßige Filme herzustellen. Die Entwicklung eines originalen Drehbuchs braucht nämlich deutlich mehr Zeit als das Herstellen eines Durchschnittsfilms. Ebenso benötigt es viel Aufwand, um eine gute Idee zu einem herausragenden Werk auszugestalten.
Es ist leichter, bei dem Versuch, die Wahrheit im Zeitalter von Falschnachrichten festzuhalten, über den Verlust der Echtheit nachzudenken, anstatt über die unabdingbare Notwendigkeit kleiner Unwahrheiten nachzugrübeln. In dieser Situation sind beide Aspekte untrennbar verbunden: Besonders autoritäre Regime stellen in unserer vernetzen Welt die individuellen Freiheiten in Gefahr.
Dies bezieht sich jedoch auf die verschwundene Romantik, zu der notwendigerweise auch das Geheimnis gehört. In dem nüchtern eingerichteten Familienhaus mangelt es beiden Partnern sichtbar an jeder poetischen Fülle. Hambalek spinnt all diese Ideen geschickt zu einer zarten, satirischem Komödie zusammen. Ein leicht größeresBudget wäre ihm angewünscht worden, doch wer kann wissen? Möglicherweise wird Hollywood ihn bereits bald wegen eines remake-Angebots kontaktieren.
Was Marielle weiß. D 2025.
Regie: Frédéric Hambalek. 86 Min.